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Wir sahen die Hölle - Flucht aus Mariupol

Der russiche Krieg in der Ukraine zerstört die Kornkammer der Welt Russlands Krieg gegen die Ukraine zerstört die Kornkammer der Welt

Von Irina, Single- und Beziehungscoach aus Mariupol. Sie unterstützt Männer und Frauen auf GenerationLove bei der Partnersuche in der Ukraine. Sie erlebte mit ihrer Familie die russische Bombardierung von Mariupol. Nur knapp entkamen sie dem Tod. Mitte April gelang ihrer Familie die Flucht aus Mariupol.

Am 24. Februar brach unser Leben zusammen. Alles, was wir hatten, verlor jeglichen Wert. Als Familie zählte nur noch, dass wir versuchten zu überleben. Jeder neue Tag war härter und schlimmer als der vorherige. In den ersten beiden Kriegswochen beteten wir, dass Gott unser Leben retten möge. Aber dann beteten wir, dass wir schnell und ohne Schmerzen sterben.

Angst, unser Kind würde qualvoll sterben

Mein Mann und ich hatten Angst, dass wir getötet werden und unseren Sohn mit 6 Jahren allein zurücklassen, ohne Nahrung und ohne Wasser. Wir hatten Angst, dass unser Kind qualvoll sterben würde. Darum versuchten wir immer zusammen zu sein, damit der Tod uns nicht trennt.

Ende Februar fielen Strom und Internet aus. Und dann gab es keine Telefonverbindung mehr. Aber das Schlimmste begann, als Wasser, Gas und Heizung verschwanden. -10°C draußen, +10C in Wohnungen.

Wir schliefen in Winterjacken und Stiefeln. Uns war furchtbar kalt. Die Temperatur in der Wohnung sank jeden Tag um 1 Grad.

Es gab Nahrungsvorräte für zwei oder drei Wochen, Wasser für drei Tage. Es gab keine Möglichkeit mehr zu kochen. Ich musste Feuer in der Nähe des Eingangs entfachen. Zuerst nahmen wir alle unsere Bücher, um Feuer zu machen. Dann sammelten wir Reisig. Es war schwierig, weil wir ständig beschossen wurden. Wir konnten uns nicht weiter als 20 bis 30 Meter vom Haus entfernen. Es gab immer die Gefahr unter Beschuss zu geraten. Alle Bäume in der unmittelbaren Nähe wurden gefällt. Jeder versuchte verzweifelt noch einen Baumstumpf zu finden.

Als der Wasservorrat zur Neige ging, sammelten wir Schnee und Wasser aus Pfützen.

Wir wurden mit Streumunition beschossen

Jeden Tag wurde es immer schwieriger zu überleben. Es war sehr gefährlich, in der Wohnung zu bleiben. Vom 10. bis 11. März wurden wir mit Streumunition beschossen. Wie durch ein Wunder haben wir überlebt, zwei Wände haben uns gerettet. Aber unser Kind begann zu stottern, einen Tag lang sprach es überhaupt nicht. Seitdem sind wir nicht mehr in die Wohnung zurückgekehrt. Wir haben nur noch im Keller gelebt.

Unser älterer Sohn ist schon erwachsen und lebte in einem anderen Stadtteil von Mariupol. Vom 2. bis 11. März hörten wir nichts von ihm. Wir wussten nicht ob er noch lebte. Dann hörten wir, dass seine Wohnung zerstört ist, das Haus wurde von einer russischen Bombe getroffen. Er überlebte. Nach fast zwei Wochen gelang es ihm, bis in unseren Stadtteil zu kommen.

Wir verließen den Keller äußerst selten. Hauptsächlich zum Kochen auf dem Feuer. Aber es war sehr riskant. Flugzeuge warfen Bomben ab, immer zwei Bomben hintereinander. Wir wussten, dass wir uns verstecken mussten, sobald wir das Dröhnen eines Flugzeugs hörten. Niemand wusste, wo sie die nächste Bombe abwerfen werden. Die Russen kreisten über der Stadt, kreisten und kreisten. Dieses Dröhnen ist noch in meinen Ohren. Wir haben die Bomben gezählt, die das nächste Flugzeug abwirft. Wieder wurde eine Bombe geworfen, sie kam nicht zu uns... dann die zweite, irgendwo in unserer Nähe... Jetzt hatten wir 5-7 Minuten Zeit zum Kochen, bis das nächste Flugzeug kam...  Später flogen sie mit zwei Flugzeugen und dann mit mehreren... Es war uns nicht mehr möglich die Bomben zu zählen. Wir konnten die Zeit zum Kochen nicht mehr berechnen. Entweder gingen wir das Risiko ein oder wir verhungerten.

Mama, gib mir Brot - es gibt kein Brot

Wir aßen zweimal am Tag. Zum Frühstück einen Esslöffel Haferflocken, zum Mittagessen eine Kelle Suppe. Das Kind träumte von Brot... "Mama, gib mir Brot, gib mir Brot." Es gibt kein Brot. Ich weine, er weint.

Die schlimmste Zeit war nachts. Wir schliefen in der Hoffnung ein, morgens aufzuwachen. Unser Kind schlief schnell ein, wir schliefen kaum. Ich umarmte unser Kind und weinte die ganze Nacht. Staub fiel von der Decke. Es war schwer zu atmen. Die Luft war schwer, ein erstickender Geruch nach Schimmel, Staub, Brand. Am Morgen sagten wir zueinander: "Gott sei Dank haben wir eine weitere Nacht überlebt."

Das Angstgefühl ließ im Laufe des Tages nach, wir saßen auf unseren Lumpen, die wir Bett nannten, und hörten, wie die Stadt bombardiert wurde. Wir waren 36 Menschen im Keller. Familien mit Kindern, ein Jahr und älter. Alte Leute und Jugendliche.

Flucht durch die Hölle von Mariupol

Als wir die Nachricht erhielten, dass es einen Ausgang aus der Stadt gibt, eilten alle zu ihren kaputten Autos. Aber nicht alle Autos waren mehr funktionstüchtig. Für 36 Personen gab es 4 Autos. Es gab nicht genug Platz für alle. Es musste entschieden werden, wer in dieser Hölle zurückbleibt. Sie setzten mich mit dem Sohn in ein Auto. Mein Mann und der ältere Sohn fanden Platz in einen Lieferwagen. Wir konnten uns nicht bewegen. Flugzeuge flogen...  Wir konnten nicht bleiben, aber wir konnten auch nicht fahren, beides war gefährlich. Beides konnte den Tod bedeuten.

Wir beschlossen zu fahren. Wir verabschiedeten uns und beteten. Dann fuhren wir mit hoher Geschwindigkeit. Ein Flugzeug flog über uns hinweg, als wollte es uns einholen. Die Kinder erstarrten, die Frauen weinten und beteten. Der Fahrer rief: „Haltet alle den Mund, schweigt!“… Ich weiß nicht einmal, was beängstigender war, zu sitzen und auf den Tod zu warten oder freiwillig in den Tod zu fahren. Vor meinen Augen waren zerstörte Gebäude, Leichen von Menschen und Tieren auf den Straßen. Kaputte militärische Ausrüstung, verbrannte Geschäfte. Es war das erste Mal, dass wir so weit von zu Hause entfernt waren. Wir sahen, es ist die Hölle, die wahre Hölle. Nicht aus einem Film.

Wir wurden getötet - aber haben vergessen zu sterben

Für uns ist alles vorbei, wir haben es raus geschafft! Jetzt sind wir in Sicherheit. "Dort wurden wir getötet...  aber wir haben vergessen zu sterben." Herz in Stücke gerissen, Seele in Stücke gerissen, schmutzig, hungrig, erschöpft, verängstigt...  aber am Leben.

Später erhielten wir Informationen über den Tod von Freunden, von Verwandten und nahen Menschen. Eine von ihnen ist Angela und ihre beiden Mädchen im Alter von 8 und 10 Jahren. Sie hat für mich als Deutsch/Englisch-Übersetzerin gearbeitet. Viele Nutzer auf GenerationLove kennen Angela, sie hat Frauen und Männern bei Treffen in Mariupol mit Übersetzung geholfen. Mein Schmerz und meine Trauer kennen keine Grenzen.


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